Zukunft braucht Herkunft

 

 

"Was die Zukunft anbelangt, so haben wir nicht die Aufgabe,

                              sie planend vorauszusehen, sondern sie zu ermöglichen."

                                                           Antoine de Saint-Exupéry

 

 

 

 

Brigitte Gerstgrasser und Pavlo Eckert

 

Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2010

 

 

 

 

 

 

Herkunft und Entwicklung des danzo-elementar

 

 

 

 

 

1. Musik und Rhythmus als Kulturbildner

 

 

 

(1)  Wir alle kennen griechische Tempel - aus eigener Anschauung oder vom Foto  -;  es sind beeindruckende Zeichen materiellen Kulturerbes. Aber was sind nun die immateriellen kulturellen Wurzeln, die solche Tempel einmal lebendig getragen haben?  Im gebildeten antiken Griechenland wurde das gesammelte kulturelle Wissen in der Metaphorik des Kreises beschrieben und mit dem – aus dem Altgriechischen stammenden - Wort „En kyklo paideia“ gekennzeichnet. Danach muss die ursprüngliche Bedeutung der modernen Enzyklopädie nach neusten Forschungen als „Erziehung durch das Tanzen im Kreis“, verstanden werden.

 

 

 

(2) Das stellt klar, dass in unseren kulturellen Anfängen der Kreistanz im gemeinsamen Sich-Rhythmisch-Bewegen-Lernen und -Können allem späteren Wissen vorausgeht! Es beeindruckt uns, dass dem Tanzen im Kreis im antiken Griechenland eine solch zentrale kulturelle Bedeutung in der Erziehung, für die Bildung von Wissen, für die eigene Lebensführung und für das eigene Gesundwerden und –bleiben eingeräumt wurde. Noch Platon hielt deshalb im Staat einen Bürger, der diese elementare rhythmische Bildung nicht erfahren hat, für asozial im Sinne von nicht gemeinschaftsfähig.

 

 

 

(3)  Rhythmus und Musik galten im antiken Griechneland als die wichtigsten elementaren Kulturbildner. Dies können wir unmittelbar nachvollziehen, da beide Worte aus den griechischen Urworten - Mousiké und Rhythmos  - abgeleitet wurden. Die Griechen haben demnach diesen bedeutenden kulturellen Akt vollzogen, Musik und Rhythmus den unübertroffenen Wert und die Bedeutung von Kulturbildnern zu geben. Der Rhythmus des Tanzes und die Musik, beides sind Urelemente menschlichen Erlebens, aus antiken Zeiten in ihrer Form und Ordnung bis ins Heute weitergegeben und auf uns übertragen. Es sind Ur-Begriffe von Kultur schlechthin, die im danzo-elementar konsequent  als immaterielle Kulturgüter gewürdigt und als solche fruchtbar gemacht werden.

 

 

 

 

2. Interkulturelle Begegnungen

 

 

 

(1)  Der Griechische Kreistanz, den die Griechen ununterbrochen über Jahrtausende im konkreten Tun aus erster Hand praktiziert und leibhaftig von Hand zu Hand weitergegeben haben, ist vor einigen Jahrzehnten bei aus angekommen, indem er von Migranten aus Griechenland mitgebracht und in Deutschland in Vereinen und auf Tanzfesten praktiziert wurde. Mitte der 1960er Jahre begann eine kleine Gruppe tanzinteressierter Deutscher, an Tanzfesten der griechischen "Gastarbeiter" im Großraum Stuttgart teilzunehmen, einige von ihnen mit tanzpädagogischem bzw. tanztherapeutischem Hintergrund. Diese ersten überwältigenden Erfahrungen von Gemeinschaft in einer vor Begeisterung knisternden Festatmosphäre haben bis heute nichts von ihrer Faszination verloren. Denn fast alle Bewegungen im Kreistanzen vollzogen sich unmittelbar, spontan, absichtslos und mühelos, sie gingen wie von selbst. So entstand eine neuartige transkulturelle Formung immateriellen Kulturerbes als Folge eines Migrations- und Integrationsprozesses.

 

 

 

(2)  Als wir, Brigitte Gerstgrasser und Pavlo Eckert, ab 1991 den Griechischen Kreistanz in unsere umfangreiche therapeutische Seminartätigkeit einbrachten, war dies ganz bewusst in Distanz zu einer Verwendung in professionell-methodischer Absichtwar es die große Hochachtung vor diesem kostbaren Kulturschatz, die nach vielen Jahren begeisterten Praktizierens bis heute nach und nach den danzo-elementar entfaltete: Im beharrlichen Umkreisen der Mitte, solange bis ihr Licht aufleuchtet, im stimmigen Einklang mit ihr.

 

 

 

 

3. Danzo-elementar: Bewegen in der Sphäre des Miteinander

 

 

 

(1) Der danzo-elementar knüpft an diese jahrtausendealte Tradition an. Wir als Therapeuten erkannten von Anfang an die unmittelbare therapeutische Qualität des Tanzens im Kreis. Aus unserer Sicht ist Rhythmus das Medium, das Inkommensurables (Unverträgliches) verbindet. Der Tanz ist die Situation, in der Rhythmen am besten gespürt und gelernt werden. Rhythmen ordnen das Leben und geben im Leben Orientierung. Die Melodien der griechischen Tanzlieder berühren uns im Innersten, weil sie nicht von Illusionen, sondern vom wirklichen Leben erzählen. Sie laden ein zum Mitschwingen, Mitspüren, Sich-darin-Wiederfinden.

 

 

 

(2) Danzo-elementar intensiviert gegenüber dem Griechischen Kreistanz das rhythmische Schwingen und schenkt dem Bodenspüren-Können eine hohe und nachhaltige Aufmerksamkeit. So werden die Füße für den Boden, der sie trägt, deutlich sensibilisiert. So werden die Hände, die sich im Geben und Nehmen verbinden, für die Rhythmische Passung sensibilisiert. So wird die Aufrichtung im gut gespürten Leibtonus intensiviert. Und so intensivieren sich alle aufkommenden Gefühle. Aus dieser Schwingungsintensivierung entspringen die eigenen Heilkräfte – mit jedem Tanz aufs Neue. Der Rhythmus des Tanzes und die Musik, beides Urelemente menschlichen Erlebens, können in der heutigen Zeit am eigenen Leib erfahren werden als Verbundensein, Gehaltensein und vom-Boden-getragen-Sein. So gelingt es, dass wir im danzo-elementar eine Synergie des Miteinander hervorbringen. Das Wort „Synergie“ ist aus em griechischen „synergia“ abgeleitet und kennezichnet das Zusammenwirken von Kräften, die sich gegenseitig fördern. Diese Synergie ist eine neuartige kulturelle Kontur des danzo-elementar.

 

 

 

(3)  Auf der Basis dieser neuartigen Synergie des Miteinander konnten wir, Brigitte Gerstgrasser und Pavlo Eckert, mit danzo- elementar eine neue Form von Trauerarbeit als Kulturarbeit entwickeln. Sie wurde möglich auf der Basis eines Bezugs zur pontischen Form von Trauerarbeit. Die pontischen Griechen wurden um 1922 aus ihrem jahrhundertealten Siedlungsgebiet am Schwarzen Meer - von Istanbul bis zum Kaukasus - vertrieben. Sie selbst sprechen von einem Genozid. Über das Trauma von Flucht und Vertreibung gibt es unzählige pontische Lieder, die bis heute gesungen und getanzt werden. So haben die pontischen Griechen mit ihren Liedern und Tänzen einen kulturellen, nachhaltig  pflegenden Umgang mit ihrer Trauer und ihrer Sehnsucht nach der verlorenen Heimat entwickelt und damit das Trauma verwandelt - ein beispielloser Vorgang in der Geschichte, der in der deutschen Kultur vollkommen fehlt. Die Deutschen hatten für das Trauma von Flucht, Vertreibung und Ausgebombt-Sein keine immaterielle, kulturelle Ausdrucksform, mit der sie Trauer und Schmerz hätten leben und verwandeln können. So blieb die Trauer nach dem 2. Weltkrieg praktisch "stecken" und wurde in vielen Fällen bis heute pathologisch. 

 

 

 

(4) Danzo-elementar respektiert und achtet das Trauervermögen der Griechen vom Pontos und hat auf dieser Basis seine neue Form von Trauerarbeit als Kulturarbeit entwickelt, bei der im Zentrum steht, wie Trauernde sich wieder mit anderen verbunden fühlen, Boden unter den Füßen spüren und eine neue Lebensorientierung gewinnen können. Diese Erfahrungen eines gelingenden Miteinanders erleben und gestalten wir mit danzo-elementar. In unseren Seminaren konnten wir auf dieser Basis Hunderten von Menschen eine gelingende Trauer- und Abschiedsarbeit ermöglichen und damit bei ihnen eine Pathologisierung der Trauer, z.B. im Abgleiten in eine Depression abwenden.

 

 

 

 

 

4. Die kretische Metamorphose

 

(1)  Seit 2002 wird danzo-elementar in der oben beschriebenen Weise auch in der Orthodoxen Akademie von Kreta (OAK) in einem einwöchigen Sommerseminar praktiziert. Diese Arbeit passt gut in den generellen Kontext der Akademie-Arbeit: Die OAK ist ein ökumenisch arbeitendes Konferenz- und Seminar-Zentrum und Mitglied des Netzwerks der Akademien Europas. Der ehrliche Dialog auf allen Ebenen (kirchlich-theologisch, kulturell, wissenschaftlich, ökologisch) ist Grundlage der Arbeit der OAK. Wir fühlen uns mit danzo-elementar und unserer Hochachtung für das griechisch-kretische immaterielle Kulturerbe in der OAK sehr gut aufgehoben. An drei Plätzen tanzen wir jedes Jahr auch in Außenbereichen: Auf der Terrasse der Akademie, die sich wie ein Schiffsbug anfühlt; im Amphitheater der OAK, direkt am Meer gelegen am Meer und an der Höhlenkapelle des Hl. Makarios, die hoch am Berg liegt mit einem steilen Abhang zum Meer. Das Verbundensein im Dialog mit einer weitenden und bergenden Natur unterstützt und fördert heilende Erfahrungen und ermöglicht einen neuen Blick auf die eigene Geschichte. 

 

 (2)  Das Eingebunden-Sein in den örtlichen und ökumenischen Rahmen der Orthodoxen Akademie Kreta ermöglichte uns Begegnungen mit Griechen, die die Weiterentwicklung ihres traditionellen Kreistanzes zum heutigen danzo-elementar aufmerksam verfolgen und sehr wertschätzen. Zu nennen ist die langjährige Freundschaft mit Janis Koumis, dem bedeutendsten Tanzlehrer von Westkreta, der sich in vielen Gesprächen für die Bedeutung seines kretischen Kresitanzes neu sensibilisieren konnte. Gleichzeitig war und ist sehr offen für die neuen Entwicklungen im danzo-elementar, zu denen er sich anerkennend äußert.

 

(3) Im Spätsommer 2014 lernten wir den bedeutendsten Sänger und Lyraspieler Kretas, Wassili Skoulas, in der Orthodoxen Akademie Kreta persönlich kennen. Wir kannten und schätzten seine Musik schon länger, sie war wegweisend für die Entwicklung von danzo-elementar. Nun standen wir mit unserer Tanzgruppe vor ihm. Wir sangen gemeinsam eines seiner Lieder, das uns alle sehr berührt und schon lange begleitet, auf griechisch vor, was ihn sprachlos machte. Er konnte es nicht fassen, dass Deutsche sich die Mühe machen, sein Lied auf griechisch singen zu lernen Wir konnten ihm erklären, warum sein Lied und seine Worte eine solche Bedeutung für unser Leben haben. Das empfand er als große Wertschätzung. Seine Resonanz war, dass er uns für den nächsten Tag in sein Musik- und Tanzzentrum einlud. Wir wussten nicht, was uns da erwartete, wollten aber den Sprung in diese Situation wagen. Als wir ankamen, wurden wir erwartet. Obwohl Herr Skoulas gerade sang, "begrüßte" er uns mit seinen Augen. Wir wurden zu einem reservierten Tisch geleitet und nach und nach mit kretischen Speisen bewirtet. Dann kam das Signallied und wir sind auf die Tanzfläche gegangen. Uns begleiteten neugierige und einladende Blicke. Als wir danzo-elementar tanzten, war es wie ein Heimkommen. Wir fühlten uns anerkannt und zugehörig.

 

 

 

(4)  Nach der Veranstaltung setzte sich Herr Skoulas zu uns an den Tisch. Er zeigte sich berührt von unserer Art des intensiven Schwingens, des spürbaren miteinander Verbundenseins und der spürbaren Ebenbürtigkeit untereinander. Er hat sofort verstanden, dass wir den klassischen kretischen Tanz zunächst gelernt,  dann intensiviert und weiter entwickelt haben. Herr Skoulas betonte, dass er von einer solchen Art des Tanzens bisher gleichsam geträumt bzw. sich dies so vorgestellt habe. Und nun kämen wir als Deutsche und würden ihn als Kreter damit beschenken. Inzwischen hat sich mit Herrn Skoulas eine Freundschaft entwickelt und wir entwickeln ein gemeinsames Projekt.

 

 

 

 

 

5. Erinnerungs- und Friedensarbeit

 

 

 

(1) Die Förderinitiative pflegen-was-verbindet e.V., unser Verein, der sich für die Verbreitung von danzo-elementar einsetzt,  plant für Anfang September 2016 ein wegweisendes Leuchtturmprojekt "Bewegte Brücken bauen" in Zusammenarbeit mit Herrn Wassili Skoulas und dem Bürgermeister des kretischen Bergdorfes Anogia, Herrn Manolis Kallergis. Die Förderinitiative pflegen-was-verbindet ordnet dieses Leuchtturmprojekt als Erinnerungs-, Versöhnungs- und Friedensarbeit ein. Wir wollen auf die kretischen Menschen zugehen und sie mit danzo-elementar dafür sensibilisieren, was uns verbindet. Dabei möchten wir deutlich machen, dass dieses unsichtbare Band des Verbundenseins immer wieder gefährdet ist und dass es deshalb gepflegt werden darf.

 

 

 

(2) Zum historischen Hintergrund: Im Zweiten Weltkrieg galt Anogeia als Zentrum des Widerstands gegen die barbarische deutsche Besatzung. Im August 1944 wurde an Anogeia ein Exempel statuiert: Die Deutschen befahlen den Einwohnern, innerhalb einer Stunde das Dorf zu verlassen. Wer nicht mehr selbst gehen konnte, wurde umgebracht. Außerdem wurden alle wehrfähigen Männer hingerichtet. Dann brannten die deutschen Soldaten alle Häuser nieder und sprengten die Reste  mit Dynamit. Sämtliche Steine und alles, was an das Dorf erinnerte, wurden vernichtet oder weggeschafft. Das Dorf war vollkommen ausgelöscht, so, als hätte es niemals existiert.

 

 

 

(3) Das Leuchtturmprojekt  "Bewegte Brücken bauen" versucht, eine neue kulturelle Kontur zu entwickeln. Es geht um ein Erinnern und Versöhnen, so dass Kreter und Deutsche, die eine gemeinsame, belastende Geschichte haben, miteinander neuen Zusammenhalt und tragendes Verbundensein erleben können. Wir bringen den danzo-elementar ein, der ja auf der genauen Kenntnis und Wertschätzung der griechischen Tanztradition aufruht, und zeigen den Menschen, wie wir das Erleben von Zusammenhalt und Gehaltensein im gemeinsamen Tanzen hervorbringen und intensivieren. Darüber werden wir ins Gespräch kommen. Kreter feiern ein solches Projekt immer als Fest. Wir gehen davon aus, dass Herr Skoulas sehr viele Besucher anlocken wird, die sich im Verlauf des Festes dann als Mittanzende und Dialogpartner beteiligen können.

 

 

 

 

 

 

 

 

Fazit

 

 

 

Wir, Brigitte Gerstgrasser und Pavlo Eckert, haben über Jahrzehnte begeistert mit Griechen den Griechischen Kreistanz praktiziert. Wir haben uns darüber hinaus mit der großen Dimension dieses immateriellen Kulturerbes aus historischer, philosophischer und therapeutischer Perspektive auseinandergesetzt und nachhaltige Forschungen unternommen. Parallel dazu haben wir über Jahrzehnte regelmäßig und verlässlich eigene therapeutische Seminare, Fort- und Weiterbildungen entwickelt und durchgeführt. Bis heute bewahren und schützen  wir die uneingeschränkte Begeisterung sowie die uneingeschränkte Hochachtung für dieses großartige immaterielle Kulturerbe der Griechen, das wir – mit ihrer uneingeschränkten Zustimmung und Anerkennung – zum danzo-elementar hin verlebendigen und weiter entwickeln durften. Dieser große Entfaltungsbogen hat nun dazu geführt, dass wir den Griechen – vor allem den Kretern – etwas daraus Erwachsenes zurückgeben können. Es ist unser Beitrag, die Zerstörung und Verwüstung von deutschen Soldatenstiefeln auf Kreta auszugleichen und zu versöhnen mit unseren sensibilisierten Füßen, die im danzo-elementar achtsam kretischen Boden berühren. Es ist, als hätten wir aus der griechischen Tanztradition eine kulturschaffende Kraft befreit, die sinn- und wegweisend ist und überhaupt erst Zukunft eröffnet. 

 

 

 

Brigitte Gerstgrasser und Pavlo Eckert